Valdez war also an der denkbar ungünstigsten Stelle in der gesamten Bucht entstanden. Mitten im Delta des Valdez Glaciers, also auf einem riesigen Kieshaufen direkt am Meer. Beim großen Erdbeben rutschte der ganze Kies dann ab und löste einen Tsunami aus. Aber es war halt der kürzeste Weg vom Schiff aufs Land weiter zum Gletscher. Und den Gletscher hinauf zogen damals die Goldjäger auf dem Weg zum Klondike River – als dort der Goldrausch ausbrach. Dahin möchten wir jetzt auch, wir ziehen aber keine Schlitten den Gletscher hinauf, sondern nehmen die Straße.
Am Worthington Glacier oben in den Bergen, den wir vorgestern auf der Herfahrt noch bei strahlend blauem Himmel fotografiert hatten, machen wir bei leichten Schneeschauern und eiskaltem Wind eine kurze Wanderung hinauf zur Gletscherzunge. Der Gletscher ist – wie fast alle Gletscher – stark auf dem Rückzug und legt dabei den Schutt seiner Moräne, aber auch massive Felsen frei. Anekdote am Rande: Für die amerikanischen Gäste wurde gestern auf dem Schiff auch erklärt, dass wenn sich ein Gletscher „zurückzieht“, dieser nicht den Berg wieder hochfließt. Kein Kommentar.
Wir fahren dann landeinwärts, lassen die Berge und den Schneefall hinter uns.
Wir folgen dem Richardson Highway und der Trans Alaska Pipeline nach Norden, biegen dann auf den Tok Cutoff ab, der bei Tok auf den Alaska Highway trifft. Der „Ort“ besteht aus zwei Tankstellen, einer Hand voll Unterkünften und Restaurants, einer Schule, einer Krankenstation, ein paar Autowerkstätten und einem Flugfeld. All das verteilt auf 2-3 Kilometer rund um die Kreuzung.
Nachdem Simone bereits *im* Gespräch (!) neben mir eingeschlafen ist, stärken wir uns noch mit einem Kaffee. Der „kleine“ Caffè Latte besteht aus etwa einem Kaffeebecher Espresso und nochmal soviel Milch und hält definitiv wach.
In Tok beziehen wir ein superkuscheliges Cabin mitten im Wald. Die Stille hier kann ich gar nicht beschreiben – denn bei null Grad draußen mussten wir das Heizgerät die ganze Nacht durchlaufen lassen, welches etwa alle fünf Minuten mit einem Aufheulen startet, dann aber wenigstens richtig einheizt. Da übernachtet man einsam in der Wildnis – und braucht Ohrstöpsel.
Am nächsten Morgen treffen wir als Erstes auf eine Moose-Mama mit ihrem Kleinen.
Die Beiden fressen sich nochmal richtig satt bevor der Schnee kommt. Fun Fact am Rande: Das Moose hat vier Mägen, um den Mix an Flechten, Moosen und Algen zu verdauen, den es am Liebsten isst.
Fast unscheinbar biegt kurz hinter Tok der Taylor Highway vom Alaska Highway ab. Verpasst man die Abzweigung und vergisst umzudrehen, kommt die nächste Möglichkeit zum Abbiegen erst nach 600 Meilen.
Langsam kommen wir in höhere Lagen – hier hat es heute morgen ein wenig geschneit.
Unten ist Indian Summer, oben liegt der erste Schnee. Wir halten Ausschau nach Caribous, denn hier zieht um diese Zeit die größte Caribou-Herde Nordamerikas durch. Am Beginn der Straße war angeschrieben, dass seit gestern die Jagdsaison auf Caribous eröffnet ist, je Jäger der Abschuss eines Bullen erlaubt ist. Entsprechend viele Jäger sind hier unterwegs. Auf großen Anhängern an Ihren Trucks ziehen sie kleine Allradfahrzeuge mit, auf denen sie dann ins unwegsame Dickicht starten. Wir würden die Caribou jedoch lieber sehen, als erschießen.
Auf den ersten Meilen war der Taylor Highway noch asphaltiert, dann geht er über in eine Schotter- bzw. Permafrost-Piste, die aber gut zu fahren ist. Zum Glück, denn auf dieser Piste werden wir nun noch vier bis fünf Stunden unterwegs sein.
Einziger Ort auf dem Weg nach Dawson ist Chicken. Der Ort sollte ursprünglich Ptarmigan heißen, also Schneehuhn. Allerdings waren sich die Arbeiter beim Aufstellen des Ortsschilds nicht ganz sicher, wie man Ptarmigan schreibt, und haben den Ort doch einfach Chicken genannt.
„Ort“ ist natürlich wieder ein Euphemismus, aber hier leben doch im Sommer ein paar Dutzend Menschen. Beim Chickenstock Music Festival ist dann die Hölle los, die Bühne steht noch, aber das Festival war wohl eher im Sommer.
Der Saloon ist sehenswert, und im Chicken Creek Café decken wir uns mit frisch gebackenem Apple Pie und Keksen ein.
Der Saloon.
Hinter Chicken wird der Taylor Highway etwas ruppiger, aber die Fahrbahn ist trocken – bei Schlamm wird das hier schnell unpassierbar. Irgendwann gabelt sich die Straße, wir biegen ab auf den Top of the World Highway in Richtung Kanada. Und es ist verrückt: Hier haben die Amerikaner die letzten Meilen bis zur Grenze funkelnagelneu und perfekt geteert. Mitten im Nirgendwo, ein Stück 1a Straße, das von beiden Seiten nur über eine Schotterpiste erreichbar ist. Der Gedanke liegt nahe, dass man den Kanadiern einfach mal zeigen wollte, wie ein anständiger Highway aussieht.
Am Welcome to Alaska – Schild checken wir quasi aus, denn wir verlassen Alaska ja jetzt ersteinmal. Es ist hier oben schon recht frisch, das Schild als Windschutz sehr willkommen.
Noch eine Meile und wir erreichen die kanadische Grenze. Es ist der nördlichste Grenzübergang Nordamerikas, geöffnet Mitte Mai bis Mitte September von 8 bis 20 Uhr. Wir sind das einzige Auto weit und breit und die Grenzpolizistin zieht sich erstmal die Jacke über bevor sie zu uns ans Auto rauskommt und die Genehmigung zur Einreise erteilt. Wir fragen uns, was man angestellt haben muss, um an diesen Außenposten – zwei Stunden Fahrt bis zum nächsten Tausend-Seelen-Ort – versetzt zu werden. Oder zu dürfen? Wer weiß?
Hinter der Grenze gilt es erstmal allerlei einzustellen: Die Uhren eine Stunde vor, den Tacho von Meilen auf Kilometer, das Bordthermometer von Fahrenheit auf Celsius. Endlich wissen wir, dass es draußen offenbar 1 Grad plus hat.
Auch das Yukon Territory erwartet uns mit einem schönen Willkommensschild – nur das N liegt schon am Boden. Der Wind ist eisig, ich springe nach dem Foto sofort wieder zurück ins Auto … und …
… erspähe oben am Berg eine Gruppe von gut zwanzig Caribous!
Wenigstens die Nachzügler bekomme ich noch aufs Bild. Die Caribous sind in vollem Galopp unterwegs. Ein großartiger Anblick! Hoffentlich laufen sie nicht den Jägern in die Arme…
Wir halten Aussicht, ob noch weitere Tiere folgen, aber da kommt leider nichts mehr nach.
Der Top of the World Highway macht auf der kanadischen Seite wieder seinem Namen alle Ehre: Die Straße verläuft weitestgehend von Bergrücken zu Bergrücken, sodass man permanenten Ausblick in alle Himmelsrichtungen hat. Durch den Schnee ist die Piste hier etwas feucht, aber immer noch gut zu fahren – nur das Auto schaut jetzt nicht mehr ganz so aus, als hätten wir nur die vom Vermieter erlaubten befestigten Straßen gewählt…
Langsam nähern wir uns unserem Ziel.
Und da sind wir: Unter uns liegt die Goldgräber-Metropole Dawson City. Gut zu sehen, wir hier der dunkelbraune Klondike River in den eher hellbraunen Yukon fließt. Wir sind da!
Wir können sogar schon unser Hotel erspähen. In dem gelben Haus ganz am rechten Bildrand, hinter dem rechten oberen Fenster, sitze ich gerade auf dem Bett und tippe (und hoffe auf Nordlichter, aber das nur am Rande).
Jetzt gilt es nur noch, den Yukon zu überqueren. Die Fähre ist Teil des Highway und holt uns gratis ab. Es gibt kein Fährterminal oder so, als Rampe wird einfach mit dem Bulldozer Kies in den Fluss geschoben. Bei jeder Flut, vor allem im Frühjahr, wird der Fluss das alles mitnehmen und die Rampen müssen neu modelliert werden.
Die Fähre macht auch nicht fest, sondern hält einfach mit Motorkraft gegen den Strom, während wir drauf fahren. In wenigen Wochen wird der Yukon schon so viel Eis mitbringen, dass die Fähre dann aus dem Wasser gehoben und sicher geparkt wird. Ist der Fluss dann sicher zugefroren, so wird im Winter an dieser Stelle eine Eisbrücke errichtet, sprich: Das Eis wird zum Queren – auch für schwere Trucks – freigegeben.
Die Ankunft in Dawson City ist wie eine Rückkehr in die Zivilisation. Aber Moment. In welchem Jahrhundert sind wir hier angekommen? Mehr dazu morgen… Wir gehen jetzt erstmal einen Kaffee trinken.